Freier Fall

By Dorina Hecht, 2017

Der Künstler Daniel Sambo-Richter vereint mit dieser Ausstellung drei Werkreihen: große Malereien mit Eisbergen, seine Feuerbilder und Zeichnungen von springenden Menschen. Dabei stellt sich zu allererst die Frage was diese Themen miteinander verbindet. Die drei visuell und inhaltlich unterschiedlichen Serien werden zunächst nur durch den Titel gebündelt und treten so in einen Dialog.

Die Auswahl dieser äußerst heterogenen Werke verweist bereits auf die vielschichtige Arbeitsweise des Künstlers. Sambo-Richter lässt sich nicht auf einen Stil festlegen. Er arbeitet sowohl naturalistisch-figürlich als auch abstrakt, einerseits grafisch-linear und ebenso malerisch-gestisch mit sichtbaren Pinselstrichen und Farbflächen. Das Prozesshafte des Malens und Zeichnens steht dabei immer im Vordergrund. Jede Bildidee scheint aus einer inneren Notwendigkeit heraus sein adäquates Medium und seine eigenen Strategien einzufordern.

Diese Herangehensweisen ergeben sich nicht willkürlich, sondern bedingen sich gegenseitig. Daniel Sambo-Richter erzeugt stilistisch und materialästhetisch Gegensätze, die auf seine intensive Suche nach dem Wesen eines Themas und seiner Umkehrung verweisen. Nach einer figürlichen Phase kann eine abstrakte folgen; und die Arbeit mit starren Materialien wie Sand, Holz oder Stahl wurde in den 1990er Jahren durch den Einsatz von flüssigem Wachs ergänzt.

Er kreiert nicht allein formal, sondern auch inhaltlich derartige Divergenzen und überträgt das dualistische Prinzip zusätzlich auf seine Bildinhalte. Fast jedes neue Thema entsteht aus einem alten, ist also eine Antwort auf die vorangegangene Serie. So ging der hier gezeigten Feuerserie die Auseinandersetzung mit dem kriegerischen Menschen voraus. Für die Werkreihe Warriors porträtierte der Künstler Kriegsherren und Soldaten, darunter Erwachsene wie Kinder. Danach folgte die beinahe abstrahierte Reduktion des Themas auf Feuer und Brände. Sambo-Richter bündelte die vernichtende Kraft, die das Handeln im Krieg prägt. Die logische Antwort auf Feuer bildete ihr Pendant: Eis.

An beiden komplementären Themen fasziniert ihn die enorme Übermacht der Natur – Feuer und Eis als extreme Elemente, als Naturgewalten, die sich gegenüberstehen. Als Kind hat der Künstler einige Feuersbrünste beobachtet und die Faszination an dieser Bildgewalt ist noch immer spürbar. So offenbart das Bild Feuer von 2012 sowohl Begeisterung für die Ästhetik als auch Ehrfurcht vor dem Feuer. Es leuchtet mit seinem intensiven Gelb massiv von innen und ist durch die sichtbaren Pinselstriche so sehr auf das Medium Malerei zurückgeworfen, dass es den Betrachter sofort in den Bann ziehen und ihn ebenso „entflammen“ kann. Die zerstörerische Kraft von Feuer tritt bei einem derartig visuellen Rausch fast schon in den Hintergrund.

Dennoch wird sichtbar, dass in dem Gemälde gerade ein Haus niederbrennt. Das Gebäude geht vollkommen in Flammen auf und sein Einsturz steht kurz bevor. Auf diese Weise thematisieren die Feuerbilder den Zerfall von Strukturen. Eine feste Form von etwas Gebautem löst sich wieder auf und wird zu Asche und Staub. Der Künstler praktiziert das Prozesshafte demzufolge nicht nur formal, sondern erhebt es durch das Aufzeigen von Werden und Vergehen, von Entstehen und Vernichten zum Bildthema.

Daniel Sambo-Richter reagiert mit seiner breit angelegten Bildsprache und den komplexen Inhalten auf gesellschaftspolitische Fragen. In den Medien diskutierte große Themen unserer Zeit bilden nicht selten den Ausgangspunkt seiner künstlerischen Ideen. Dass er sich mit dem Klimawandel und der globalen Erwärmung beschäftigt, lassen die Eisbilder ausnahmslos erahnen, aber ein Werk bezeugt sein Interesse daran besonders deutlich. Eis II zeigt in kaltem Blau riesige Eisberge, deren zerfurchte Struktur fast die gesamte Bildfläche ausfüllen. Konkret verortet wird dieser raumgreifende Gletscher nur durch einen schmalen Streifen Wasser und den leuchtend orangenen Himmel. Das Blau des Wassers und des Eises dominiert das Bild, aber das feurige Orange des Himmels legt sich nebulös und drückend darüber. Der Gletscher wirkt stabil, nur ein Eisblock ragt bedrohlich aus der ansonsten gleichförmigen Struktur heraus und scheint in Kürze ins kalte Meer zu stürzen. Auch hier löst sich eine Form auf. Es geht um universelles Wirken und die Bedrohung, dass etwas fällt, zusammenbricht, sich auflöst.

Spielt der Künstler konkret auf das Kalben der Gletscher an, auf das Abbrechen großer Gletscherteile oder allgemein auf das Kollabieren von festen Strukturen? Setzt er sich mit der Klimaerwärmung auseinander, die dafür sorgt, dass immer mehr Eis von den Eisbergen schmilzt und sich im Wasser auflöst? Oder geht es ihm universeller um den Prozess radikaler Veränderung, des Umsturzes und damit um das Fallen von Ordnungssystemen? Beziehen sich seine Bilder auf zusammenbrechende Systeme, wie er es als Jugendlicher mit dem Fall der Mauer erlebt hat?

Wenn man den Titel hört und die Ausstellung sieht, wird der Fokus zunächst mal auf die leiseren Bilder der Springer (Jumpers) gelegt. Diese assoziiert man sehr direkt mit der Überschrift. Die Zeichnungen veranschaulichen, auf welche unterschiedliche Weise sich Menschen in der Luft bewegen. Sie hüpfen, fliegen, stürzen, schweben –  befinden sich im freien Fall, bewegen sich also unter dem ausschließlichen Einfluss der Schwerkraft.

Wir sehen Körper, die von der Erdanziehungskraft nach unten gezogen werden. Dies wird in denjenigen Zeichnungen besonders deutlich, die am unteren Bildrand einen Schatten oder eine Art Boden aufweisen. Einige Bilder wirken als wäre die Schwerkraft gänzlich aufgehoben. In Werken wie Blackwhite scheinen die Personen schwerelos dahinzugleiten oder wie im luftleeren Raum zu schweben. Indem der Künstler ihnen im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen wegnimmt, betont er den Eindruck der Schwerelosigkeit. Der Bildraum wird nicht klar definiert und so bleibt es unklar, wie tief die Personen fliegen oder fallen.

Sambo-Richter hält in der Serie einen winzigen Moment fest, der meist nur Sekunden andauert. Er friert seine Figuren in diesem Zustand förmlich ein und lässt sie in einer unnatürlichen Position verharren. Damit zeigt er sie als halt- und ziellose Kreaturen im Schwebezustand.

Der Titel Freier Fall enthält gleichsam etwas Bedrohliches, weil noch nicht klar ist, wie der Mensch auf der Erde ankommt. Die Papierarbeit Kopfüber offenbart so einen Moment des Schreckens. Schon der Titel dieser Zeichnung verrät, dass die Person kopfüber nach unten fällt. Die senkrecht gezogene Pinselstruktur des Hintergrundes verstärkt den Eindruck des schnellen Stürzens. Dieses Bild erzählt die sekundenlange Sequenz einer Geschichte, führt sie jedoch nicht zu Ende aus. Wir können als Betrachter lediglich spekulieren: Springt die Person nur kurz hoch und landet wieder sicher auf der Erde? Oder stürzt sie sogar aus viel zu großer Höhe in die Tiefe? So wie Ikarus, der mit selbstgebauten Flügeln aus Übermut der Sonne so weit entgegenfliegt, dass er abstürzt. Das Thema Ikarus hat Daniel Sambo-Richter in der Vergangenheit bereits beschäftigt und könnte alle gezeigten Werke vereinen. Auch der Ikarus-Mythos behandelt das Fliegen, das Stürzen, die Gefahr des Feuers und den Sturz ins eiskalte Meer.

Geht es dem Künstler vielleicht um die Hybris der Menschen, um das Greifen nach der Sonne und den anschließenden Absturz oder vor allem darum, mit den Mitteln der Malerei und der Zeichnung Bilder zu kreieren, deren Geschichten im Kopf des Betrachters weitergedacht werden können? Titel und Werke werfen Fragen auf und laden ein sich mit den benannten Zusammenhängen zu beschäftigen. Was bedeutet „Freier Fall“ in Relation zu den drei Serien? In welcher Beziehung steht der Titel zu den einzelnen Arbeiten? Dass er die Werke in einem konkreten Diskurs verortet, aber dennoch vieles offenbleibt, verdeutlicht die Komplexität von Daniel Sambo-Richters Arbeiten. Seine Bilder haben als Kunst die Kraft für sich allein zu bestehen, aber sie können gleichsam als Metaphern für gesellschaftliche Prozesse gelesen werden. Sie bezeugen seinen individuellen Prozess des Malens und Zeichnens genauso wie die intensive Auseinandersetzung mit aktuellen Themen und die kontinuierliche Suche nach einer adäquaten künstlerischen Antwort.